Einführung in die Sensitive Religionswissenschaft als Darstellung des Rechts auf Intimität
aus: Hoffnung und Sinn, 4. Auflage, Dareschta Verlag 2015
Begriffsbestimmung
Viele haben versucht, Religion von anderen, ähnlichen Phänomenen abzugrenzen, um so zu einer Definition von Religion zu gelangen. Wie problematisch ein solcher Versuch sein kann, zeigt folgendes Zitat, dessen Zusammenhang sich mit der Frage beschäftigt, ob der Kommunismus eine Religion sei (was verneint wird, jedoch nicht sehr überzeugend):
„Mir scheint, dies Erlebnis der Abhängigkeit ist die Wurzel der Religion, wie sie zu allen Zeiten von Menschen gesehen wurde, die sie erfahren oder über sie nachgedacht hatten. Dann aber kommt dem Kampf um ein Ideal, was immer dessen ethischer Wert sein möge, die Bezeichnung Religion nicht zu. Überdies bringt Kampf - ganz besonders auch Kampf gegen Irrtum und Ketzerei - in die Religion ein Moment hinein, das ihrem Wesen fremd ist und sie entweiht.”
[Propyläen-Weltgeschichte: Gabriel Marcel: Religiöses Denken in der heutigen Welt, S. 11. Digitale Bibliothek Band 14: Propyläen Weltgeschichte, S. 16673 (vgl. PWG Bd. 10, S. 598) (c) Ullstein Verlag]
Die fast schon unüberschaubare Menge an Begriffsbestimmungen des Wortes „Religion” lässt vermuten, dass die Sicht der religionswissenschaftlich Forschenden das Interesse leitet. Auch die etymologischen Versuche greifen zu kurz, um „Religion” in der diesem Begriff zugehörigen Mehrdimensionalität gerecht zu werden.
Cicero bestimmt „religio” als Götterkult (cultus deorum) und damit von der praktischen Seite: relegere heißt somit „sorgsam beachten”, das Gegenteil ist dann neglegere („vernachlässigen”).
Der christliche Schriftsteller Lactantius (3./4. Jahrhundert) leitet religio von religare (wieder binden, zurückbinden). Das nimmt Augustin (christlicher Theologe 354-430) auf: die von Gott (durch den Sündenfall) losgerissene Seele muss wieder an ihn zurückgebunden werden.
Im klassischen Griechenland gibt es keine direkte Entsprechung des Begriffs Religion. Damit assoziierbare Begriffe (eusébeia = Ehrfurcht, Scheu; latreía = Dienstleistung, threskéia = Gebotserfüllung) können jedoch auch profan gebraucht werden und sich so auf den Umgang zwischen Menschen beziehen.
Der islamische Begriff „dîn” kommt aus der semitischen Wurzel für „richten”, „entrichten” und weist auf das, was Menschen Gott schuldig sind, beschreibt jedoch auch profane Lebensformen (Brauch und Sitte).
Der indische Begriff „dharma” umfasst eine große Bandbreite an Bedeutungen (von der Vorstellung, wie Götter den Kosmos zusammenhalten, über „Gesetz” bis hin zur hinduistischen Kastenordnung).
Es gibt Religionen. Deren Analyse im Hinblick auf das Gemeinsame könnte helfen, den Begriff Religion zu definieren. Eins ist sicher: im religiösen Bereich gibt es immer irgendwelche Kontakte zu Göttlichem – und sei es, dass Götter als erlösungsbedürftige Wesen bezeichnet werden, wie durch den frühen Buddha. Allen gemeinsam ist auch die Beschreibung eines Heilsweges einschließlich kultischer Handlungen und Regeln zur Lebensführung. Dadurch geben sie vor, Heil sei noch nicht „inwendig in uns” (im Gegensatz zu Jesus, dessen Aussage zwar überliefert ist, jedoch keine Anwendung in der christlichen Religion findet, siehe Lukas 17,21), sondern müsse erlangt werden.
Es scheint sinnvoll zu sein, von den Inhalten auf eine Religion zu schließen, um dem Wirrwarr der Begriffsbestimmungen nicht noch ein neues Wirr oder Warr hinzuzufügen. Letzteres kann geschehen, wenn definiert würde: Wenn Selbstverständliches in Konkretionen umgewandelt wird und dafür nicht überprüfbare Begründungen geliefert werden, entsteht Religion.
Religiösität als konkret gelebte Religion bezieht sich auf folgende Dimensionen:
Anschauung (Weltanschauung, Sicht auf Menschen)
Ethik (praktische Umsetzungen von religiösen Inhalten)
Ritualisierungen
Soziales (Umgang der Menschen miteinander und ggf. ihre Bindung an Gemeinden)
Mythologie
Lehre
Erfahrungen (mit religiösen Erlebnissen)
Heilwerdung, Erlösung (finale Orientierung, Eschatologie)
Gemeinsamkeiten erlauben dann die Definition einer Religion. Das führt dazu, dass z. B. das Christentum nicht als eine Religion betrachtet werden kann, zu groß sind die inhaltlichen Unterschiede in den Konfessionen und Denominationen.
Zur Bedeutung der Religionswissenschaft für unseren Alltag:
„...die Religionswissenschaft (ist) in ganz pragmatischer Weise nützlich“, indem sie Kenntnisse über Religionen und Kulturen vermittelt - nicht nur über fremde, entweder räumlich weit entfernte oder inzwischen in unmittelbarer Nähe vorhandene, sondern auch über die eigene, bisweilen fremd gewordene. Diese Wissensvermittlung beschränkt sich nicht nur auf den universitären Bereich, wenngleich sie dort besonders evident ist: Inzwischen sollte weithin Konsens sein, dass sich die religionswissenschaftliche Kompetenz von Theologiestudierenden nicht mehr nur auf Grundkenntnisse über die religionsgeschichtliche Umwelt des Alten und Neuen Testaments beschränken kann; auch Studierende der Politologie haben sich religionswissenschaftliches Wissen anzueignen, da sie spätestens bei Grundfragen der internationalen Politik auf religiöse Faktoren stoßen; und Wirtschaftswissenschaftler werden sich womöglich mit den Auswirkungen religiös begründeter Wirtschaftsethik auseinanderzusetzen haben, wenn sie beispielsweise mit dem Phänomen islamischer Aktienfonds konfrontiert sind.
Die Schule ist eine weitere wichtige Institution, in der die Religionswissenschaft dazu beiträgt, verlässliches Wissen über Religionen bereitzustellen. Gleiches gilt für das weite Feld der Erwachsenenbildung und der Fortbildung, für den Bereich kirchlicher Akademien oder für Parteistiftungen, für die Politikberatung oder für Angebote im Bereich des Managertrainings: Im Grunde gibt es kein Gebiet der Wissensvermittlung, wo guten Gewissens auf religionswissenschaftliche Expertise verzichtet werden konnte; Grundkenntnisse über Religionen und religiöse Bewegungen sollten heutzutage nicht mehr nur zum exklusiven Bildungsgut einer kleinen intellektuellen Elite gehören, sondern integraler Bestandteil der Allgemeinbildung sein. Dazu gehört beispielsweise das Bemühen, die Wahrnehmung für das komplexe Zusammenspiel von religiösen und nichtreligiösen Aspekten zu schärfen, was ja durchaus eine anspruchsvolle Aufgabe ist, wenn etwa nach der religiösen Dimension bei Konflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen gefragt wird ...“ (Hock, S. 178).
Beim Blick auf den Alltag müssen wir berücksichtigen, dass es auch sogen. „weltliche” Formen (komplexe und auch weniger komplexe) gibt, die keinen religiösen Ursprung haben, jedoch auf religiöse Systeme gewirkt haben (siehe auch die säkularen Mythen „Zur Entstehung des Patriarchats - Die patriachale Not-Wendigkeit der Mythenbildung“)
Das Empfinden, den Naturmächten ausgeliefert zu sein, hat zu gesellschaftlichen Systemen geführt, die sich weniger der Umwelt angepasst haben, sondern sich die Umwelt „untertan” machen möchten. Dazu gehört auch die Tendenz von Religionen, den Alltag zu ordnen, Orientierungen zu vermitteln und Verlässlichkeiten zu produzieren durch vermeintliche Sinngebungen. Wer nach dem Sinn fragt, bewegt sich schon auf der Grenze zwischen religiös und säkular.
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